Es war einer dieser kühlen Frühsommertage in Norddeutschland, an denen der Wind nach Regen riecht und der Himmel gleichzeitig schwer und friedlich wirkt. Linda stieg aus dem Taxi, das vor dem kleinen Haus am Ortsrand hielt. Der Fahrer half ihr mit dem Koffer, sie bedankte sich kurz und blieb einen Moment einfach stehen. Vor ihr lag das alte Backsteinhaus ihrer Großmutter – ein Haus, das sie aus Kindertagen kannte, mit dem Duft nach Apfelkuchen, Bohnerwachs und Rosenwasser. Nur dieses Mal fühlte sich alles anders an.
„Oh, also hat Oma dich auch gerufen, ja?“, tönte eine Stimme hinter ihr. Brian, ihr älterer Bruder, lehnte lässig an seinem Auto, eine Sonnenbrille auf der Stirn, das Hemd halb geöffnet. Er grinste sie an, wie er es immer tat, wenn er glaubte, ihr überlegen zu sein. „Ich dachte, du wärst zu beschäftigt mit deinen Büchern in der Uni.“
Linda zwang sich zu einem Lächeln. „Hallo, Brian.“ Mehr fiel ihr nicht ein. Sie spürte sofort wieder diese alte Mischung aus Nervosität und Enttäuschung, die sie immer empfand, wenn sie mit ihrem Bruder sprach. Er war dreißig, selbstbewusst, laut und überzeugt, das Leben verstanden zu haben. Sie war neunzehn, still, nachdenklich, jemand, der lieber las, als redete.
„Na komm schon“, sagte er, während er das Gartentor öffnete. „Lass uns sehen, was die alte Dame diesmal will. Vielleicht teilt sie ja schon ihr Erbe auf.“
Linda hasste diesen Ton. Für sie war ihre Großmutter nie eine „alte Dame“, sondern jemand, der immer da war – mit warmen Händen, sanfter Stimme und Geschichten, die sie als Kind in den Schlaf gewiegt hatten.
Als sie das Haus betraten, schlug ihnen der vertraute Geruch entgegen: eine Mischung aus Vanille, Holz und etwas Staub. Der Flur war dunkel, nur ein Streifen Sonnenlicht fiel durch das kleine Fenster. In der Küche hörten sie ein leises Husten.
„Oma?“ rief Linda.
„Ich bin hier, mein Schatz“, kam es aus dem Wohnzimmer.
Marlene saß im Sessel am Fenster, eingehüllt in eine Decke, das graue Haar ordentlich hochgesteckt, die Hände zitterten leicht. Neben ihr stand eine Tasse Tee, der längst kalt geworden war. Als sie die beiden sah, lächelte sie – aber es war dieses Lächeln, das mehr Abschied als Freude war.
„Ihr seid gekommen“, sagte sie leise. „Ich wusste, ihr würdet kommen.“
Brian trat als Erster näher. „Natürlich, Oma. Du hast ja gesagt, es sei wichtig. Geht’s dir gut?“
Sie nickte, langsam. „So gut, wie es in meinem Alter eben geht. Aber ich wollte euch noch einmal sehen… und euch etwas geben.“
Sie deutete auf den kleinen Tisch neben ihr. Darauf lagen zwei Päckchen – eines groß, in Zeitungspapier gewickelt, und eines klein, in ein altes Leinentuch geschlagen.
„Brian“, sagte sie, „du bekommst das Haus. Du warst immer derjenige, der sich um solche Dinge gekümmert hat. Du hast Pläne, du willst etwas daraus machen. Ich hoffe, du wirst es gut behandeln.“
Brian konnte sein Lächeln kaum verbergen. „Natürlich, Oma. Ich werde es renovieren, vielleicht vermieten oder verkaufen – je nachdem. Aber keine Sorge, ich mach was draus.“
