08.11.2025

Ich habe meine Traumkreuzfahrt den familiären Verpflichtungen vorgezogen – und den Preis dafür bezahlt

Ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll. Vielleicht damit, dass ich kein schlechter Mensch bin. Zumindest habe ich das immer von mir geglaubt. Ich bin 48 Jahre alt, arbeite seit fast 25 Jahren als Krankenschwester, habe mein Leben lang für andere funktioniert, mich um Patienten gekümmert, um Kollegen, um meine Familie. Ich war nie jemand, der einfach nur an sich gedacht hat. Und doch… wenn ich an das denke, was vor zwei Jahren passiert ist, kann ich nicht aufhören, mir selbst Vorwürfe zu machen. Vielleicht erzähle ich das alles, weil ich hoffe, dass jemand, der das liest, versteht, wie schnell man eine falsche Entscheidung treffen kann – und wie lange man mit den Folgen leben muss.

Mein Mann Thomas und ich hatten seit Jahren den Traum, einmal im Leben eine richtige Kreuzfahrt zu machen. Nicht nur ein Wochenende auf der Ostsee, nein – so richtig, durch das Mittelmeer, mit Sonne, Meer und diesem Gefühl, dass man endlich angekommen ist. Drei Jahre haben wir gespart. Jeder Cent wurde zweimal umgedreht, kein Restaurantbesuch, kein spontaner Wochenendausflug, kein neues Handy, kein unnötiger Luxus. Ich erinnere mich noch an das Gefühl, als wir die Buchung endlich bezahlt hatten – dieser Moment, als ich die Bestätigung in der Hand hielt, war wie ein kleiner Sieg. Endlich etwas nur für uns.

Es war eine Kreuzfahrt im Mai. 12 Tage, von Venedig bis Barcelona. Sonne, gutes Essen, Meeresluft. Ich hatte sogar extra neue Kleider gekauft, obwohl ich sonst nie Geld für mich ausgebe. Ich war wie ein Kind, das sich auf Weihnachten freut. Wir zählten die Tage.

Und dann kam alles anders.

Vier Tage vor unserer Abreise passierte es. Thomas’ Sohn – mein Stiefsohn, Lukas – hatte einen Autounfall. Fünfzehn Jahre alt. Ein Junge, der das ganze Leben noch vor sich hatte. Es war spät am Abend, er war mit dem Fahrrad unterwegs, ein Autofahrer übersah ihn. Der Anruf kam gegen 23 Uhr. Ich erinnere mich an Thomas’ Gesicht, als er den Hörer fallen ließ. Ich erinnere mich an die Stille, die danach im Raum lag. Und an mein Herz, das sich anfühlte, als würde es stehen bleiben.

Lukas war tot.

Es gibt Momente im Leben, die alles verändern. Dieser war so einer. Ich weiß noch, wie Thomas einfach auf dem Sofa saß, die Hände im Schoß, und immer wieder sagte: „Nein, das kann nicht sein.“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Es gibt keine Worte, die so einen Schmerz wirklich lindern können.

Die nächsten Tage waren ein Nebel. Polizei, Formalitäten, Beerdigungsvorbereitungen. Ich funktionierte einfach. Ich tat, was getan werden musste, und irgendwo in mir war diese kleine Stimme, die sagte: „Die Kreuzfahrt…“ Ich schämte mich schon für den Gedanken. Aber er war da. Immer wieder. Ich hatte drei Jahre lang darauf hingearbeitet, Tag- und Nachtschichten gemacht, Überstunden, alles für diesen einen Traum. Und jetzt war alles vorbei.

Zwei Tage nach dem Unfall saßen Thomas und ich in der Küche. Es war still, nur der Kühlschrank brummte leise. Draußen regnete es. Ich weiß noch genau, wie er sagte: „Wir müssen die Reise stornieren.“ Und ich… ich nickte zuerst. Natürlich. Was hätte ich sonst sagen sollen? Aber dann kam sie wieder, diese Stimme. Diese egoistische, schreckliche Stimme in meinem Kopf. „Du hast so hart gearbeitet. Du brauchst diese Pause. Vielleicht tut dir das sogar gut.“ Ich hasste mich für diesen Gedanken – und konnte ihn trotzdem nicht loswerden.

Am nächsten Tag rief ich bei der Reederei an, fragte, wie viel wir verlieren würden, wenn wir stornieren. 70 Prozent. Fast alles. Das war Geld, das wir nicht einfach so wieder hatten. Ich legte auf und fühlte, wie mein Magen sich verkrampfte. Am Abend sagte ich zu Thomas: „Vielleicht… vielleicht solltest du bleiben. Ich weiß, dass du das alles verarbeiten musst. Aber ich habe so hart gearbeitet, um das zu ermöglichen. Vielleicht würde mir das sogar helfen, mal rauszukommen, einfach kurz Luft zu holen.“

Er sah mich an, als hätte ich ihm ins Gesicht geschlagen. Kein Wort, kein Schrei, nur dieser Blick. Ich wünschte, er hätte mich angeschrien. Stattdessen sagte er gar nichts. Und genau das tat am meisten weh.

Ich versuchte es zu erklären, zu rechtfertigen. Ich sagte Dinge wie: „Ich kann hier ja sowieso nichts tun.“ oder „Lukas ist tot, ich kann ihn nicht zurückbringen.“ Ich hasse mich heute für diese Worte. Ich habe sie nicht böse gemeint, aber sie waren kalt. Eiskalt. Ich wollte stark wirken, rational, aber in Wahrheit war ich feige. Ich wollte der Trauer entkommen.

Am Tag vor der Abreise packte ich. Thomas saß im Wohnzimmer, regungslos. Ich sagte: „Ich fahre nur, um klarzukommen. Ich komme zurück, und dann bin ich ganz für dich da.“ Er sagte nur: „Mach, was du willst.“

Das waren die letzten Worte, die ich von ihm hörte, bevor ich ging.

Ich weiß nicht, was ich mir vorgestellt hatte. Vielleicht, dass die Kreuzfahrt mich irgendwie heilen würde. Dass das Meer, die Sonne, das fremde Land mich wieder ins Gleichgewicht bringen würden. Aber schon am ersten Abend auf dem Schiff fühlte ich mich fehl am Platz. Überall lachende Menschen, Paare, Musik. Und ich – allein. Ich saß an Deck, sah aufs Wasser, und fühlte mich leer. So unendlich leer.

Ich wollte ihn anrufen, aber ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich schrieb ihm eine Nachricht: „Ich denke an dich.“ Keine Antwort. Ich schrieb nochmal: „Ich liebe dich.“ Wieder nichts. Am dritten Tag gab ich auf.

Und dann, am sechsten Tag, kam der Anruf.

Ich lag gerade auf dem Bett in der Kabine, die Sonne schien durchs Fenster. Das Handy klingelte. Thomas. Mein Herz setzte aus. Ich nahm ab, meine Hände zitterten. „Thomas?“ Es war eine lange Pause. Dann seine Stimme. Ruhig, fast zu ruhig. „Ich wollte dir nur sagen… du wirst zurückkommen und niemand wird hier sein.“

Ich verstand zuerst nicht. „Wie meinst du das?“ Er atmete schwer. „Ich halte das nicht mehr aus. Ich wollte nicht, dass du es so erfährst. Aber ich kann so nicht weiterleben.“

Ich sprang auf, mein Herz raste. „Thomas, was redest du da? Bitte, tu nichts Dummes!“ Ich hörte ein Klicken, dann war die Leitung tot. Ich schrie, ich weinte, ich rannte zum Bordpersonal, sie versuchten, die Polizei zu verständigen. Aber es war zu spät.

Thomas hatte sich das Leben genommen.

Ich weiß nicht, wie ich die restlichen Tage überstanden habe. Ich erinnere mich nur an das Meer, das unendlich schien, und daran, wie ich dachte: „Das Meer nimmt, was es will.“ Ich kam zurück in eine Wohnung, die leer war. Sein Geruch war noch da, seine Sachen, seine Schuhe vor der Tür. Aber er war weg.

Und seitdem frage ich mich jeden Tag: Hätte ich bleiben sollen? Natürlich hätte ich das. Es gibt keine Entschuldigung. Kein Urlaub der Welt, keine Flucht, kein Traum ist es wert, den Menschen, den man liebt, allein zu lassen, wenn er am Boden liegt.

Ich habe danach lange nicht mehr gearbeitet. Ich konnte keine Menschen mehr anfassen, keine Kranken pflegen, weil ich das Gefühl hatte, ich hätte meinen eigenen Menschen im Stich gelassen. Ich bin in Therapie gegangen. Ich habe gelernt, dass Schuld nicht einfach verschwindet. Sie wird Teil von einem. Man lernt, mit ihr zu leben – aber sie bleibt.

Ich besuche manchmal sein Grab. Und Lukas’ Grab auch. Ich bringe Blumen mit. Ich rede mit ihnen, als wären sie noch da. Ich erzähle ihnen, wie der Himmel an dem Tag aussieht, oder was ich eingekauft habe. Manchmal stelle ich mir vor, Thomas sitzt irgendwo und sagt: „Ich hab dir doch gesagt, bleib hier.“ Und ich antworte: „Ich weiß. Ich hätte hören sollen.“

Ich habe viele Nachrichten bekommen, nachdem ich meine Geschichte zum ersten Mal geteilt habe. Manche nannten mich egoistisch, herzlos. Und vielleicht haben sie recht. Andere sagten, sie hätten Verständnis. Dass man manchmal flieht, wenn man nicht mehr weiß, wohin mit der Trauer. Aber am Ende zählt nur eines: Ich habe jemanden verloren, weil ich dachte, meine Flucht würde mich retten.

Heute lebe ich allein. Keine Kinder, kein Partner. Ich habe gelernt, wieder zu arbeiten, aber das Lachen fällt mir schwer. Ich reise nicht mehr. Schon der Gedanke an Flughäfen, Koffer, Sonne macht mich krank.

Wenn ich manchmal am Meer stehe, sehe ich die Wellen kommen und gehen, immer wieder, unaufhörlich. Und ich denke: Das Leben ist genauso. Es nimmt, es gibt, und manchmal verschlingt es alles, was du bist.

Ich erzähle das nicht, um Mitleid zu bekommen. Ich erzähle es, weil vielleicht irgendjemand da draußen gerade überlegt, eine Entscheidung zu treffen, die alles verändern könnte. Vielleicht stehst du gerade an einem ähnlichen Punkt. Vielleicht hast du Streit, vielleicht fühlst du dich leer, vielleicht willst du einfach nur weg.

Dann bitte ich dich: bleib. Bleib bei denen, die dich brauchen. Es gibt keinen Urlaub, keine Flucht, keine Reise, die dir das zurückgibt, was du verlierst, wenn du gehst.

Ich habe meine Traumkreuzfahrt bekommen. Aber ich habe dafür alles andere verloren. Und manchmal, wenn ich die Augen schließe, sehe ich nicht das Meer oder die Sonne oder die schönen Orte, die ich besucht habe. Ich sehe nur Thomas, wie er in der Küche sitzt, mich ansieht und sagt: „Mach, was du willst.“

Und ich wünschte, ich hätte damals verstanden, was er wirklich meinte.